WG79 – Briefentwurf an Alma Mahler
Berlin, Samstag, 8. Oktober 1910

Meinen letzten Brief in Neustettin
\so/ schrieb ich Dir in einer Stunde größter
Sehnsucht in Hast u ohne zu überlesen

Ich hatte bei der
gelesen

 Denn wo man die Geliebte
sucht, sind Ungeheuer selbst
willkommen

 9 Tage her daß Dein lieber Tröste-
brief kam; eine Vorbereitung auf
Amerika
Heut Morgen warst Du mir seltsam
nahe, ich habe selig von Dir geträumt
Wir saßen auf einer Gebirgswiese
ein verklärtes Toblach, Du spieltest
mit meinen Händen. Deine
ging vorbei und lächelte uns zu.
Es war so selig u wunschlos, daß
ich erwachend mich erst langsam in
die Wirklichkeit zurückfand.

 __________

Es waren ein paar schöne

Tage viel Tätigkeit, so recht aus
dem Vollen; die prächtige Herbst-
landschaft genoß ich auf Jagd-
streifen, ganz frei u einsam
\nur/ mit Dir und den Hennen
Es ist unsagbar schön, im Busch zu
liegen u auf das Wild zu lauern. In
solchen Dort kann ich den verständigsten
philosophieren u das eigne Innere re-
vidieren. Man braucht solche
Rechnungsabschlüsse von Zeit zu Zeit

um den Umfang seiner Person
erkennen u vergrößern zu können.

 Ich bin in Sorge um Deine
Erkältung, hatte es schon wieder
geahnt. Dein Brief vom Freitag
erreichte mich erst am Donners-
tag, so daß ich 9 \lange/ Tage nichts
vernahm, eine Vorahnung
auf Amerika. \Meine Briefe nicht
                       abgeholt, da Du nicht da-
                               von sprichst/

 Mein Kommen

 Photografieren lassen
Aber die Körperlichen Dinge,
ich meine Zeit u Raum, werden
gedämpft, man ringt mit ihnen
und will sich nicht wieder in ohn-
mächtigem Auflehnen den Kopf
einrennen

 Soviel Angst u Zittern u
unterdrücktes Leiden in Deinen
Briefen. wenn man sich kennt
liest man mancherlei zwischen
den Zeilen. Man kann oft
mehr aus Dingen schließen
die der andere nicht sagt,
könnte ich Dir mehr helfen.
Die Lust zu schenken, Liebe zu
geben wächst ins Grenzenlose
an und ihre Fülle \will d Herz sprengen u/ bereitet Schmerzen

 Terra nova

 Ripolinlack

 grün

[am linken Blattrand:]
Wir sind schwach, da unser Wollen nicht
ausreicht solche Augenblicke festzuhalten

Deinen habe
ich mir genau angesehn und finde
ihn sehr schön. Wie freue ich mich über
all Deine lieben weiblichen Eitelkeiten,
Du bist ein so ganzer, runder
Mensch, ich traf immer nur das
eine oder andere noch nie alles
edle schöne so vereint wie bei Dir
mein Herz, so weiblich – jung
und frisch neben allem Verstand
und Deiner Ch[arak]tergröße


Apparat

Überlieferung

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Quellenbeschreibung

3 Bl. (3 b. S.) – Notizblock (, ), obere Hälfte eines Notizblockblattes ().

Druck

Erstveröffentlichung.

Korrespondenzstellen

Antwort auf AM37 vom 23. September 1910 (Wie hat Dir mein Kopfschmuck von Hoffmann gefallen?): Deinen Hoffman[n]kopfschmuck habe ich mir genau angesehn und finde ihn sehr schön.

Datierung

Obwohl WG in diesem Entwurf auf AM37 vom Freitag, den 23. September 1910 antwortete, den er am 29. September in Janikow (Jankowo) empfangen hatte, ist er wesentlich später entstanden und lässt sich aufgrund des Passus 9 Tage her daß Dein lieber Tröstebrief kam datieren. Daraus ergibt sich der 8. Oktober 1910. Offensichtlich hatte WG beim Verfassen der vorliegenden Blätter AM38 noch nicht erhalten, welcher zwar am 29. September geschrieben, jedoch erst am 4. Oktober versendet und fälschlich an die Neubabelsberger Adresse verschickt worden war, wo er am 5. Oktober weitergeleitet wurde (s. Umschlag AM38). Möglicherweise brauchte AM37 länger als gewöhnlich, um von Neubabelsberg nach Berlin zu gelangen. Es scheint daher am wahrscheinlichsten, dass WG den vorliegenden Entwurf am 8. Oktober 1910 verfasste und kurz darauf AM38 erhielt, woraufhin er unmittelbar WG80 verfasste.

Übertragung/Mitarbeit


(Marie Apitz)
(Bettina Schuster)


A

Meinen letzten Brief – Entwurf dazu möglicherweise WG78 vom 3. Oktober 1910.

B

Neustettin – Umsteigebahnhof (heute Szczecinek) auf dem Rückweg nach Berlin.

C

TröstebriefAM37 vom 23. September 1910, der am 27. September von Neubabelsberg nach Janikow (Jankowo) weitergeleitet worden war und den am 29. September erhalten hatte.

D

Dein Brief vom Freitag erreichte mich erst am DonnerstagAM37 vom 23. September 1910, der erst am 29. September eingegangen war.

E

9 \lange/ Tage nichts vernahm – Da zuletzt durch AM37, geschrieben an einem Freitag, Nachricht erhalten hatte, erfuhr er 9 \lange/ Tage nichts aus Leben, nämlich vom Donnerstag, den 29. September bis zum 8. Oktober 1910.

F

Terra Nova Ripolinlack grün – Arbeitsnotizen.

G

Hoffman[n]kopfschmuck – s. AM37 vom 23. September 1910: Hoffmann.